Wolfgang Heidenreich (1992)
Ich versuche einen Künstler wahrzunehmen, dessen Arbeit in all ihren Motiven, Phasen und Ausprägungen nicht als ein wechselhafter Mehrspartenbetrieb, sondern als eine Einheit zu verstehen ist, als verschiedene Ausdrucksformen einer einzigen authentischen »Lebensschwungkraft«. Da gebrauche ich also tatsächlich diesen aus dem Gespräch gekommenen Schlüsselbegriff vom ‚élan vitale’ des Henri Bergson, der in den Zeiten des bildnerischen und literarischen Expressionismus in aller Munde war. Gemeint war damit die schöpferische Kraft, die zum Beispiel in der Evolution das Leben gegen die Haltekraft der Materie in die Vielfalt der Formen treibt, oder die in den Ausdrucksformen der Kunst allen auseinanderfallenden Elementen entgegenwirkt.
Karlsruhe 1919 - Geburtsjahr in einer Residenz ohne Großherzog nach der mißlungenen Revolution. Wen oder was spürt und erlebt ein Kind, das von der Goetheschule flieht, Bühnenbildner werden will; 1935, mit 16 Jahren, an der Karlsruher Akademie beim Trübner-Schüler Hermann Goebel zugelassen und früh unbürgerlich erwachsen wird.
In den Kämpfen der ‚Spitzpinsler’ und der ‚Flachpinsler’, der Hakenkreuzler vom Schlage Hans Adolf Bühlers und der nach Courbet oder auch Corinth empfindenen ‚Französlinge’ erlernt er bei seinem wohlinformierten Hermann Goebel Weißhöhung, Lasur und den Mut zum eigenen, freien Blick, hat seine erste Ausstellung, verkauft sein erstes Portrait.
Und nun geht Bert Jäger in einer kultivierten jüdischen Familie namens Vogel in eine Lebensschule, erhält Kenntnis von vielen Dingen, Denkweisen, geistigen uns seelischen Horizonten. Als diese Freunde 1936 emigrieren, fährt der Siebzehnjährige nach Heidelberg zu dem in Karlsruhe geborenen jüdischen Dichter Alfred Mombert, um Abbitte zu leisten für den Ungeist, der die gemeinsamen Freunde vertrieben hatte - das war die Reifeprüfung des Nonkonformismus, eine Schlüsselsituation für den riskanten Schritt auf die verpönte Seite parteinehmender Menschlichkeit.
Dann der Kriegsbeginn, die deutsche Aggression, Kriegs- und Besatzungsdienst in Polen, Russland. Traumatische Erlebnisse menschenverachtender Gewalt. Ein Schuß, der sein Bein zertrümmert. Lazarett in Wien, auf Krücken schleppt sich Jäger heimlich zur Kunstakademie.
In der Kriegsgefangenschaft hat er dann wieder gezeichnet: Auf Postkarten die Gesichter seiner Mitgefangenen, möglichst portraitgenaue Erinnerungs- und Überlebenszeichen.
Mit 30 Jahren kehrt er zurück in etwas Fremdes namens Heimat.
Ab 1954 ist er bei Gruppenausstellungen im In- und Ausland dabei, ab 1958 gibt´s für ihn »Kunst am Bau«-Aufträge, ab 1960 Einzelausstellungen.
Durch Aufenthalte in Ligurien erlebt er einen Ort, an dem er aus sich heraustreten und eine Welt, seine Welt »von außerhalb« bewegen kann. Es entstehen 25.700 Diapositive: 25.700 Lichtblicke in die Augenblicksverfassung der Wirklichkeit. Es entstehen Erzählungen, zwei umfangreiche Romane, poetische Texte. All dies ist die Überlebensarbeit eines künstlerischen Bewusstseins, das nie den Zusammenhang mit sich selber verliert, ob es fotografiert, schreibt oder nun auch wieder auf eine unglaublich gelöste und selbstsichere Weise zeichnet und malt. Über dieses neue Kapitel in der Arbeit Bert Jägers möchte ich ein Wort Elias Canetti aus seinen Aufzeichnungen (»Die Provinz des Menschen – 1942 bis 1972«) setzten; es heißt: »Prinzip der Kunst: mehr wiederfinden, als verloren gegangen ist.«